Martha Verdorfer (1989)

Jg. 1962

Ich hab dann auf der Universität zwei Paradigmenwechsel mitgemacht. Einmal war das die Historische Frauenforschung und zum zweiten diese Geschichte von unten oder die Oral History. Das waren beides Dinge, die mich sehr fasziniert haben, also dieser Blick von Menschen, die bisher kaum zu den Protagonisten der Geschichte gezählt worden sind, dass man diese Erfahrungen und Erlebnisse auch mit hineinbringt. Ich war am Anfang vor allem auch bei der Historikerinnengruppe in Innsbruck aktiv, wo wir diese Themen gemeinsam aufgearbeitet haben. Und dann eben diese Oral History, die hat mich auch sehr interessiert. Leopold Steurer war ein Jahr lang mein Lehrer und wir blieben dann immer in Kontakt und der hat sich ein bisschen vertieft, als ich angefangen habe, Geschichte zu studieren. In dieser Zeit war ich auch schon manchmal mit ihm unterwegs zu Menschen, mit denen er Interviews geführt hat, in einer noch sehr, wie soll ich sagen, unprofessionellen Form, also es war auch gar nicht immer ein Tonbandgerät dabei, sondern es war einfach ein Gespräch. Das hat sich dann sozusagen auch später intensiviert. Nach dem Studium haben wir dann gemeinsam das Buch über die Deserteure gemacht, wo wir mit dieser Methode gearbeitet haben.

In den ‘80er Jahren war in Südtirol die Zeitgeschichte ein Tagesthema, ein sehr politisches Thema. Das was in Deutschland so ‘68, ‘69 passiert ist, dass man die Elterngeneration befragt hat nach ihrer Stellung zur Zeit des Nationalsozialismus, nach ihrer Verantwortlichkeit, dieser Historikerstreit, aber auch die gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Vergangenheit, ist in Südtirol so in den ‘80er Jahren öffentlich geworden. Das hat mich natürlich als Studentin, als Historikerin sehr interessiert und auch fasziniert, mit welcher Vehemenz diese Kriegsgeneration sich gewehrt hat gegen irgendwelche Fragestellungen, gegen irgendwelche Infragestellungen von Positionen. Diese versteinerte Haltung von den Älteren, die ich auch von zu Hause nicht gekannt habe. Obwohl meine Großeltern auch Optanten waren, aber sie waren da sehr differenziert und haben immer auch darüber gesprochen, wie schlimm diese Zeit war und dass es vor allem die Einheimischen waren, die sich sehr schuldig gemacht haben. Da kam mir dann schon der Gedanke, Zeitgeschichte Südtirols zu betreiben – nicht nur aus einem historischen, sondern schon auch aus einem gesellschaftspolitischen Interesse heraus – hier Position zu beziehen oder hier dazu beizutragen, an einem verbreiterten und differenzierten Wissen über Südtiroler Geschichte.

1989, ich denk mir, dass fünfzig Jahre Option, das war einfach ein wichtiges Datum. Es ist ein bisschen zusammen gefallen: Dass diese fünfzig Jahre gerade Ende der ‘80er Jahre stattfinden, war ein Glücksfall aus verschiedenen Gründen. Es war eine Zeit, in der sich sozusagen eine neue Geschichtsschreibung in Südtirol etabliert hat. Mit Claus Gatterer, mit Leopold Steurer, aber auch bereits mit einigen jüngeren Historikern, Hans Heiss, Christoph von Hartungen, Stefan Lechner – die halt damals dann auch bei der Ausstellung mitgearbeitet haben, die wir gerade an der Uni waren und unsere Abschlussarbeiten gemacht haben, zufälligerweise im Umkreis der Südtiroler Zeitgeschichte. Dann sicher der politische Wechsel von Magnago zu Durnwalder. Insgesamt war es irgendwie klar, dass man etwas machen müsste und dass es auch möglich war, etwas zu machen. Dass es auch eine Gruppe von deutsch- und italienischsprachigen Historikern gegeben hat, das war schon ein Glücksfall. Ich hab dann ein Jahr lang mit der Gruppe zusammengearbeitet, die diese Optionsausstellung vorbereitet hat. Ich hab in diesem Jahr wahnsinnig viel gelernt, obwohl ich schon einiges über die Option gewusst habe, weil ich sie ja in meiner Dissertation behandelt habe. Aber gerade diese Zusammenarbeit mit den italienischsprachigen Kollegen, diese Einbeziehung des Trentino beziehungsweise dieser italienischen, auch der ladinischen Realitäten, das alles war mir bis jetzt noch nicht so wirklich zu Bewusstsein gekommen. Die Auseinandersetzung um verschiedene Sichtweisen auf die Geschichte, das war schon eine sehr interessante Erfahrung; vor allem auch die Diskussion darüber, wie wir – wir waren ja alles Historiker und Historikerinnen – wie wir sozusagen unser Wissen und auch unsere Wertigkeiten weitergeben können an ein möglichst großes, breites Publikum. Das war schon auch eine Herausforderung, zum Teil auch der Abschied von diesen so genannten wissenschaftlichen Standards. Einfach der Versuch, Geschichtserzählung zu popularisieren, ohne sie zu simplifizieren oder zu banalisieren, sondern einfach zu schauen, wie kann man historische Prozesse verdeutlichen, dass sie etwas sagen auch für eine Bevölkerung, die eben nicht Geschichte studiert hat oder auch gar keine Matura hat. Das war schon eine sehr interessante Erfahrung und da hat mir natürlich meine Erfahrung mit Oral History geholfen, weil dort durch den Kontakt mit den so genannten einfachen Leuten, was ein sehr komischer Ausdruck ist, auf jeden Fall, diese Beziehung zur Alltagskultur und zum Alltagsleben, gegeben war. Ich denk, das ist etwas, das der Geschichtswissenschaft ja oft ein bisschen abhanden geht und ich glaub‘, das ist in der Optionsausstellung von 1989 gut gelungen. Diese offene Erzählung, die sozusagen verständlich ist für sehr viele unterschiedliche Menschen, unterschiedlicher Sprachgruppen, unterschiedlicher Generationen, unterschiedlicher sozialer und kultureller Milieus. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass die Gruppe, die die Ausstellung vorbereitet hat, relativ groß und unterschiedlich war von ihrer Zusammensetzung her.

Was für mich dann auch eine ganz wichtige Erfahrung war, war, dass ich anschließend auch Führungen gemacht habe durch die Ausstellung – unterschiedliche Gruppen, Lehrpersonen, Schüler. Das war das erste Mal, dass ich in der Vermittlung von Geschichte tätig war und das finde ich nach wie vor eine sehr interessante Tätigkeit.

In der Zwischenzeit gibt es natürlich sehr viele andere Themen, die Prioritäten ändern sich und es gibt jetzt wieder sehr viele Jugendliche in der Oberschule, die von der Option kaum oder gar nichts gehört haben bzw. ein sehr oberflächliches Wissen haben über die Option, das sich auch in der Begrifflichkeit ausdrückt. Diese Begriffsverwischungen zeigen einfach, dass das Wissen über die Option momentan wieder sehr fragmentarisch, sehr oberflächlich ist. Das war vielleicht ein bisschen eine Enttäuschung. Ich hab mir damals schon gedacht: Jetzt kann niemand mehr zurück hinter dieser Entwicklung. Ein bisschen stimmt’s auch, so ganz zurück kann man auch nicht. In der Geschichtsdebatte in Südtirol hat sich 1989 eine Zäsur ergeben, hinter die man nicht mehr zurückgegangen ist. Allerdings hat es im Wissen und in der Diskussion damals einen Höhepunkt gegeben, der jetzt schon nicht mehr da ist.