Sabine Merler – Zur (Un)Wandelbarkeit eines Begriffes

 

Zur Widerständigkeit von Heimat-Konzepten[1]

Von Sabine Merler

„[…] Heimweh ist ein Schmerz der da den Menschen bis ins Innerste packt und […] fesselt […], vielleicht vergleichbar mit einem Menschen der depressive Erscheinungen hat, der weiß auch net genau w[a]rum er so betrübt ist und sich so äh, eigentlich überflüssig fühlt […].“[2]

Mit dieser Beschreibung versucht Herr K., ein 85-jähriger Optant, im Gespräch seine Sehnsucht nach der Heimat auszudrücken. Ebenso wie dieses Verlangen schwerlich in Worte zu fassen ist, gestaltet sich bereits die Begriffsklärung von Heimat äußerst diffizil – vor allem aufgrund der starken emotionalen Komponente und der Vielschichtigkeit der Betrachtungsweisen.

Diese Studie widmet sich der Erinnerung an Heimat im Kontext der Südtiroler Option des Jahres 1939. Dazu werden Heimatvorstellungen junger Nord- und Südtiroler_innen mit eingebunden, um Brüche oder Kontinuitäten in Bezug auf den Heimatbegriff und die Tradierung desselben von der Großeltern- oder Urgroßeltern-Generation bis heute auszumachen.[3] Ausgehend davon, dass eine Grundidee von Heimat in Nord- und Südtirol altersgruppenübergreifend fassbar ist, da sie stark vom sozio-politischen Umfeld geprägt wird, werden die Bedeutungen und Verflechtungen von Ideen, Werten und Auffassungen in den Gesprächen über Heimat aus einer europäisch-ethnologischen und zeithistorischen Perspektive betrachtet.

Insgesamt ließ sich ein romantisch-verklärtes Bild von Heimat ausmachen, welches sich schon weit vor der Machtübernahme des Faschismus herausgebildet hatte, das aber in der Zwischenkriegszeit und zur Zeit der Option, begünstigt durch politische Instrumentalisierung und Ideologisierung, eine besondere Festigung und Prägung erhielt. Besagtes Heimatbild verstärkte sich in der Nachkriegszeit nicht zuletzt durch den Einfluss der Medien, sodass es bis heute weitergetragen wird. Trotz der eigentlichen Vor- und Nachgeschichte lassen sich die Wurzeln dieser Überhöhung in den späten 1930er und den frühen 1940er Jahren verorten. Zu vermerken ist noch, dass dieses Konzept von Heimat in Nord- und Südtirol zwar stark präsent ist, aber nicht immer anstandslos übernommen wird. Es stößt durchaus auch auf Kritik – sei es in Bezug auf das Bild selbst, auf die lokale Politik oder die Mentalität, sowie gesellschaftliche Normen und Praktiken. Wenn das Thema Option in Nord- und Südtirol nach dem Krieg in der Bevölkerung keine wirkliche, breite Aufarbeitung erfahren hat, sodass bis heute nicht frei darüber gesprochen werden kann, so schwingt die Erinnerung daran doch immer im kommunikativen Gedächtnis[4] mit, wie sich am Beispiel des Heimatbegriffs deutlich erkennen lässt.

Heimat-Stimmen

Heimat hat ihre Grenzen, physisch gesehen, aber auch in Bezug auf den Begriff als solchen. Auch wenn Erlebtes verarbeitet, vergessen, oder verdrängt werden kann, erfährt doch alles, was mit Heimat in Verbindung gebracht wird, als Teil eines Identitätskonstrukts des Individuums und des Kollektivs speziell durch den Verlust derselben in der Retrospektive eine Überhöhung und Idealisierung.

Heimat erweist sich als Umschreibung einer wie auch immer gearteten Wohlfühlzone äußerst strapazierfähig. Auch Problemen, Konflikten und Schwierigkeiten hält die persönlich definierte Heimat stand. Der Optant Herr F., 86 Jahre alt, erklärt, dass Heimat für ihn alles sei, es bezeichne den Ort, wo er sich wohlgefühlt habe. Ein Gefängnis, meint er, könne keine Heimat sein. Darum sei es den Südtirolern, welche im Zuge der Option das Land verlassen hätten, nachzusehen, denn es sei nicht mehr eine Heimat gewesen, wo man sich wohlfühlen und in Frieden leben konnte, sondern beinahe ein Gefängnis: „[…] es Wort Hoamet isch irgendwie vergewoltiget gwordn durch [die] Diktatur […].“ [5] Heimat sei schwer zu ertragen, wenn die sozio-politischen Umstände nicht mit den eigenen Ansichten vereinbar sind, oder wenn es Probleme oder Konflikte mit dem Umfeld gibt. „Hoamet is, eigentlich do wo’s passn sollte. […] weil’s jo nit imma passt, net.“[6], erklärt G., eine Nordtiroler Musikerin, ihr Bild von Heimat. Die Gesprächspartner_innen wenden sich offensichtlich von einem einmal als Heimat auserkorenen Ort, Objekt oder Gefühl nicht so leicht ab, wenn es auch negative Erlebnisse gab. So erzählt Frau A., die als Kind mit ihrer Familie nach Baden bei Wien ausgewandert war, sie habe dort zur Zeit des Nationalsozialismus, des Krieges und der Flucht eine wunderbare, wenn auch alles andere als unbeschwerte Kindheit in der Stadt gehabt. Vor allem zur Zeit der russischen Besetzung habe sie grausame Gewalttaten erlebt und mit angesehen. Als sie wieder nach Südtirol gekommen war, fühlte sich Frau A. nicht willkommen und empfand heftiges Heimweh. „Omer olm gsogg: Mama giamer wieder ba di Russn außi, liaber wia do! Na echt. […]“[7]

Es ist nicht einfach festzulegen, wann und wie ein Gefühl von Heimat aufkommt. Den Interviews zufolge entsteht es unabhängig davon, wie lange und wann sich die Person an einem Ort, beziehungsweise in einem Umfeld befunden hat. Dies können frühe Kindheitsjahre, Arbeits- oder Ehejahre sein, oder die Befragten haben selbst niemals an dem Ort gelebt, den sie als ihre Heimat definieren. Vielmehr tragen sie eine Sehnsucht in sich, die sich zum Beispiel von anderen auf sie übertragen hat. Frau H. zog im Alter von drei Jahren mit ihrer Familie in eine Südtiroler Siedlung in Nordtirol. Dort ist sie bis heute geblieben, dennoch setzt sie alles daran, so oft wie möglich nach Südtirol zu fahren. „I bin a Südtirolerin“, erklärt sie stolz. Ob ihre Geschwister das ebenso sehen, kann sie nicht sagen, für sie würde es sich jedoch nie ändern.[8] Im Gegensatz zu Frau H. wird bei Frau G. ein Auslöser für die tiefe Verbundenheit zu Südtirol deutlich. Als Auftrag oder Erbe ihres verstorbenen Vaters, seinerzeit Begründer des Südtiroler-Verbandes, empfindet sie es, sich ihrer „Landslait“[9] anzunehmen und sie in ihren Belangen im Ausland zu unterstützen, wie es ihr der Vater auftrug.[10] Somit wird Südtirol zu einer entfernten, aber nichtsdestotrotz präsenten Heimat, derer besonders im Rahmen der Verbandsaktivitäten gedacht werden kann. Wenn auch nicht oft explizit über die alte Heimat gesprochen wird, so geschieht dies doch indirekt durch die Anschauungen und Grundlagen des Verbandes und durch die Verbandszugehörigkeit, aber auch konkret durch das Singen von „Tiroler Liedern“, das Abhalten verschiedener Trachtenveranstaltungen oder das Kartenspielen, wie einige Mitglieder bei einem Sommer-Gartentreffen berichteten und zeigten.[11] Herr L., selbst in zweiter Generation von Optant_innen in Nordtirol geboren, zelebriert Südtirol als seine Heimat, in welcher er nie gelebt hat. „[…] War’s für uns ah immer wemer übern Brenner gfohrn sein, ds wor ei einfoch ein intuitives Gfühl: Iaz fohrmer hoam eini.“[12] Als Sohn einer Südtiroler Auswanderin als „kluaner Walscher“[13] bezeichnet, beschließt Herr L., dem schließlich auch entsprechen zu wollen, wie er erzählt. Verstärkt durch den äußerst starken Südtirolbezug der Mutter, zu der er eine tiefe Beziehung hatte, baut er sich ein Sehnsuchtsbild von Heimat, das einerseits der Mutter Ehre trägt und andererseits die Vorhaltungen, die von außen an ihn herangetragen wurden, bestätigt.

Auch wenn die Definition von Heimat oft ein Anknüpfen an familiäre Wurzeln versucht, so ist sie dennoch nicht immer leicht zu verorten, etwa weil eine Heimat gesucht wird, die gar keine solche (mehr) ist, sondern nur mehr in der Erinnerung existiert, wie Herr G., ein Optant, beschreibt:

„[Heimat] bedeutet mir sehr viel! Aber in einem vielleicht überhöhten Sinn, denn konkret habe ich keine Heimat. Und im äh übertragenen Sinn sehr viel weil ich bin schon sehr sagen wir eingenommen davon, dass ich ein Kastelruther bin. Nicht wegn de äh, nicht wegen der Musik da drin, de … mog di Zellberg-Buabn vom Zillertol liaber. […]“[14],

fügt er scherzend hinzu, vielleicht um der Aussage etwas an Schwermut zu nehmen. Dies zeigt sich auch bei Frau H., die durch die Option und auf der Suche nach ihrer Mutter immer wieder ihr Zuhause gewechselt hatte. Sie meint, sie habe überall Heimat gefunden, wo sie in ihrem Leben gewesen sei. „[…] bin i menonderkemen wias folsche Geld!“[15], ergänzt sie lachend, um das Thema abzuschließen und um Atmosphäre etwas zu lockern.

Die Frage nach Heimat trifft die Interviewpartner_innen an einem sehr persönlichen, verwundbaren Punkt. Wer an Heimat denkt, lässt Vergangenes Revue passieren, erinnert sich an Vertrautes, Angenehmes, an das, was ein „heimeliges Gefühl“ hervorruft, wie es die Musikerin G. im Gespräch in Bezug auf Volksmusik erklärt. Es erinnere sie daran, wie sie diese Lieder zu Hause mit ihren Eltern beziehungsweise Großeltern im Radio gehört habe.[16] Schutz und Geborgenheit sind demzufolge wichtige Elemente, die den Heimat-Sinn prägen. Herrn T., der zuerst noch scheinbar unbekümmert, distanziert und stellenweise lachend über seine Kriegserlebnisse und seinen Wachdienst im KZ berichtet, steigen die Tränen in die Augen, als er von der Ankunft am elterlichen Hof nach vielen Umwegen auf der Rückkehr aus dem Krieg berichtet: „Rührend“ sei der Moment gewesen, als alle vier Geschwister schon heil aus dem Krieg zurückgekehrt waren und er nun als letzter ankam.[17]

Heimat zu finden, aber auch darüber zu reden, ist nicht leicht, manchmal ist es schlichtweg nicht möglich. S., ein Südtiroler Musiker, meint, Heimat sei ein sehr abstrakter Begriff. Er habe unzählige Definitionen von Heimat gehört, dennoch könne er nicht sagen, was Heimat für ihn sei: „[…] I bin mit 25 no net zu einem Punkt kemen wo i dir […] mit voller Ehrlichkeit sogn konn, wos für mi Heimat isch. Hem miaßet i di unliagn. I miaßet mir iaz a Floskl erfindn um dir zu sogn wos Heimat isch, weil i woaßes net.“[18]

Was ist nun der Sinn von Heimat und wie kann der Heimat-Sinn der Einzelnen gedeutet werden? Nach Hermann Bausinger ist „Heimat […] ein vages, verschieden besetzbares Symbol für intakte Beziehungen.“[19] Sie beschreibt seinem Befund zufolge Beziehungen zu Menschen und Dingen, die sich in diversen Formen zeigen können, so zum Beispiel in Landschaft, Tracht, Dialekt oder Lied. Die Bilder, die Heimat in sich vereint, so Bausinger, weisen auf die Identität des Menschen hin, „[…] als Übereinstimmung […] mit sich und seiner Umgebung, Identität als Gegenbegriff zu Entfremdung.“[20]

Heimat-Blick

„Die weißen Spitzen begriaßen di, die Epfl und der Wein, der Duft deiner Heimat erinnert di drun frei zu sein. Long isches her dass du wekgongen bisch, iaz bisch schu wieda do. Olles isch gleich geblieben und des isch richtig so. Huamkemen – a groaßes Wort i will huamkemen, i wor so longe fort, huamkemen, jetzt oder nia, i will huamkemen, huam zu dir.“[21]

So besingt die Südtiroler Band Vino Rosso die Rückkehr in die Heimat in ihrem Lied Huamkemen im Jahr 2013. Darin finden sich einige der typischen Elemente des Heimatbegriffs, wie Landschaft, Essen und Trinken, Gerüche, sowie Freiheit, Vertrautheit und Liebe – offensichtliche Konstanten auch im Heimatbegriff der Jugendlichen. Das Lied fügt sich also ein in die Reihe der bekannten, klassischen Heimatlieder, die einen mit Idealen und Werten versehenen Identifikationsraum umschreiben. Regionale Heimatlieder entstehen unter jeweils unterschiedlichen politischen und sozialhistorischen Umständen und sind somit Ausdruck ihrer Zeit und der jeweiligen Vorstellungen.[22] Heimat zeigt sich als konstruierte Erinnerung an einen konkreten oder symbolischen Ort, in welchen Bedeutungen eingeflochten werden, sodass er selbst Teil eines Identitätskonstrukts wird.[23] Ob und wie lange dieser Ort nun konkret erlebt wurde, ist dabei nebensächlich. Viel relevanter scheint die Prägung durch das soziale Umfeld, welches solche Sehnsuchtsräume herstellt und vermittelt. Wenn das Heimatbild auch individuell eingefärbt ist, so ist es dennoch stark kollektiv geprägt und wirkt generationenübergreifend.

Erinnerungstraditionen von Dableiber_innen, Optant_innen und Rücksiedler_innen unterscheiden sich ob der jeweiligen Erfahrungen im Kontext der Option und der Zeit danach, in welcher diese Erinnerungen überformt wurden, so die Historikerin Martha Verdorfer. Doch für den Heimatbegriff lässt sich ein einheitliches Grundmuster erkennen, welches sich sowohl durch diese verschiedenen Gruppen zieht, als auch bis in die Gegenwart wirkt. Die Stabilitätsfaktoren für gesellschaftliche Gruppen, welche Erinnerungen und Erzählungen nach Verdorfer bilden[24], gelten in Bezug auf Heimat für eine größere Gruppe. Das bereits politisch und medial geprägte Sehnsuchtsbild von Heimat erfährt zur Zeit der Option eine zusätzliche Verstärkung: Instrumentalisiert und ideologisiert wird Heimat zu einem Kampfbegriff. Sämtliche Gruppen, ob und wie auch immer sie optiert haben mögen, waren plötzlich in der Situation, Heimat für sich neu definieren, sich entscheiden, Kompromisse treffen zu müssen, sich auf Basis dieser Diskussion mit anderen zusammenzuschließen oder sich zu verfeinden. Nichtsdestotrotz: Der gemeinsame Nenner, der „Assoziationsgenerator“[25] blieb die Heimat, die eingenommen, verändert, verlassen, verloren oder zurückgelassen wurde. Dass das Heimatbild mitsamt der Optionsdebatte nach dem Zweiten Weltkrieg in Südtirol sozusagen eingefroren, nicht öffentlich diskutiert wurde, aber im Inneren doch noch am Schwelen war, zeigt spätestens die Aussage Reinhold Messners zu Beginn der 1980er Jahre, in welcher er die Optant_innen von 1939 als ‚Heimatverräter‘ bezeichnet. Die daraufhin folgende, erste große öffentliche Debatte um das Thema im Südtirol der frühen 1980er Jahre, verhärtete und verstärkte die Fronten viel mehr, als dass sie diese auflöste.[26] Der Titel des Filmklassikers zur Thematik der Option von Felix Mitterer Die verkaufte Heimat (1988 Teil 1) rekurriert eigentlich auf die Diskussion um das Gehen und Bleiben zur Zeit der Option, gleichermaßen stützt der Film aber das bereits bestehende Heimatbild. In den geführten Interviews mit den Zeitzeug_innen tauchten immer wieder interessante Parallelen zum Film auf, so die vertriebenen Gutsbesitzer_innen, welche zurückkehrten, um sich ihre Lebensmittel zu holen, der italienischsprachige Straßenkehrer oder die junge Südtirolerin, welche sich mit dem Carabiniere vermählt.

Wenn die Soziologen Gunther Gebhard, Steffen Schröter und der Kulturwissenschaftler Oliver Geisler herausarbeiten, das geschlossene, abgrenzende Heimatbild habe sich seit etwa 1970 mehr und mehr für das Neue, Fremde geöffnet, muss dies für die vorliegende Analyse dementiert werden: Das Heimatbild hat sein Ideal in der Vergangenheit und ist auf die Zukunft ausgerichtet, wie die Wissenschaftler_innen es beschreiben, doch zeigt sich in dieser Studie ein besonderes Verharren auf alten Vorstellungen. Eine Offenheit für Neues ist in Bezug auf den Heimatbegriff nur schwer auszumachen. Hermann Bausinger meint in diesem Zusammenhang:

„Ein Heimatbegriff, in dem die ausländischen Arbeiter nicht unterzubringen sind, ist unzureichend. […] Dies setzt eine weite und freie, humane Auffassung von Heimat voraus: Heimat als Lebensmöglichkeit und nicht als Herkunftsnachweis, Heimat als Identität und nicht als Verhaftung.“[27]

Ebenso wie der Heimatbegriff zur Zeit der Option für verschiedene Zwecke der politischen Argumentation herhalten musste, so wird er, den gegenwärtigen Umständen angepasst, auch heute noch mit solchen Absichten verwendet, wie sich an einem Textauszug des Liedes Südtirol der Band Frei.wild gut ablesen lässt:

„Südtirol, wir tragen deine Fahne
Denn du bist das schönste Land der Welt
Südtirol, sind stolze Söhne von dir
Unser Heimatland, wir geben dich nie mehr her
Südtirol, deinen Brüdern entrissen
Schreit es hinaus, dass es alle wissen
Südtirol, du bist noch nicht verlor’n
In der Hölle sollen deine Feinde schmorr’n [sic]

Heiß umkämpft war dieses Land ja immer schon
Und ich sags, [sic] ich sags [sic] mit Freude, ich bin dein Sohn
Edle Schlösser, stolze Burgen und die urigen Städte
Wurden durch die knochenharte Arbeit unser [sic] Väter erbaut
Kurz gesagt, ich dulde keine Kritik
An diesem heiligen Land, das unsre Heimat ist
Darum holt tief Luft und schreit es hinaus
Heimatland wir geben dich niemals auf.“[28]

Wie Verdorfer zu Recht bemerkt, zeigt sich aktuell eine sehr starke, junge, rechte Szene in Südtirol, welche historische Bezüge und Symbole verwendet und diese zusätzlich sehr eigenwillig interpretiert.[29] Auch wenn die Heimatvorstellungen junger Menschen nicht immer dezidiert politisch radikal oder rechtsextrem sind, „wurzeln [sie] aber vielfach unbewusst im selben oder in einem verwandten gedanklichen Nährboden: die Überhöhung des Eigenen, aus dem alles Ungute herausgeputzt wird, um es als Projektion auf ein Feindbild zu werfen, die Abhebung der eigenen guten Welt von einer fremden bedrohlichen Welt.“[30] Der Heimatbegriff hat seinen kämpferischen Aspekt keineswegs verloren – offensichtlich lässt er sich immer noch sehr gut benutzen, um unterschwellig politische Macht auszuüben. Nicht von ungefähr erfährt er deshalb in Zeiten gesellschaftlicher und sozialer Unsicherheiten, wie wir sie derzeit unter dem unzureichenden Begriff „Globalisierung“ erleben, eine neuerliche Aufwertung und bürgt mit altbekannten Gewissheiten.

Der Heimatblick muss weiter gehen. Südtirol hat drei Sprachgruppen: Welche Bedeutung haben Heimat und Sprache für ladinisch- oder italienischsprachige Südtiroler_innen in Bezug auf die Option und auf heute?[31] In Süd- und Nordtirol leben aus verschiedenen Gründen auch Migrant_innen aus diversen Ländern, alle mit unterschiedlichem soziokulturellen Hintergrund. Wie können sie in einem so begrenzten Begriff von Heimat Platz finden, wenn dieser nicht einmal für die drei Sprachgruppen reicht? Früher wurde der Ausdruck „Walsche“ verwendet, heute die Bezeichnung „Italiener“, weil alles etwas zivilisierter zugeht, meint Frau P. im Gespräch. Allerdings seien es immer noch die gleichen Leute. Frau P. wiederholt oft, die Jungen müssten froh sein, die Optionszeit nicht erlebt zu haben. Wenn es heute die Option gäbe, denkt sie, würden die Leute wohl wieder gleich herumstreiten.[32] Das Feindbild, jene imaginierte Bedrohung der eigenen, heilen Welt von außen, wie sie im Andreas-Hofer-Mythos tradiert wird, so Hans Karl Peterlini, wurde vom ,Italiener‘ und ,Deutschen‘ auf die Kategorie ,Ausländer‘ erweitert. Einzig ein gemeinsamer Dialog und Diskurs über die verschiedenen Heimat-, Fremd- und Selbstbilder kann hier eine Änderung bewirken.[33]

Persönliche Erinnerungen, zusammengesetzt aus vergangenen Begegnungen, Erlebnissen und Gefühlen, verändert durch wiederholtes An- und Abgleichen mit Erzähltem, neu Erlerntem und dem Bemühen, sich selbst im Zuge einer Identitätsverortung in einem möglichst günstigen Licht dastehen zu lassen, bilden die Basis für den individuellen Gehalt der Bezeichnung Heimat. Es ist bemerkenswert, wie sich der Heimatbegriff in dieser Form über Generationen erhalten hat, wie dieses Konstrukt mit durchaus positiven Attributen vermittelt und übertragen wurde. Die Frage nach der Heimat irritiert, weil sie dazu auffordert, einen sehr persönlichen und intimen Teil der eigenen Identität preiszugeben: „‘S sein di uanfochn […] Frogn de extrem schwar sein, ge!“, bemerkt der Musiker S., nachdem er, als die Frage gestellt worden war, eine Zeit lang geschwiegen hatte.[34]

Die Heimatfrage bewegt und wühlt vielleicht längst Vergessenes auf – beinhaltet der Heimatbegriff doch Vertrauen, Sicherheit, Geborgenheit und reibt er sich an Welt- und Kulturoffenheit, Vielsprachigkeit, Transregionalismus und -nationalismus. Die dem Heimatbegriff anhaftenden politischen und ausgrenzenden Aspekte und somit die „Doppelbödigkeit“ des Konzeptes dürfen nicht außer Acht gelassen werden: so sehr Heimat verbindet, so sehr baut ihr Konzept auf Ausschluss dessen, was nicht Teil der Konstruktion des Eigenen ist und somit als bedrohlich und feindlich erscheint.[35] In diesem Sinne möchte ich mit den Worten Hermann Bausingers schließen: „Wer Heimat sagt, begibt sich auch heute noch in die Nähe eines ideologischen Gefälles, und er muss zusehen, dass er nicht abrutscht.“[36]

 

[1] Der vollständige Beitrag zu dieser Studie erscheint unter dem Titel Heimat: Zur (Un)wandelbarkeit eines Begriffes in: Eva Pfanzelter (Hg.), Option und Erinnerung, Geschichte und Region/storia e regione 2013 (Heft 2).

[2] Interview mit Herrn H. K., Jahrgang 1928, am 4.9.2013. Antwort auf die Frage nach Heimat. [Sämtliche in diesem Beitrag verwendeten Interviewteile sind so transkribiert, dass die jeweiligen sprachlichen Nuancen der Interviewpartner_innen erkennbar sind. Das heißt, es wird versucht, soweit es möglich ist, die (dialektalen) Eigenheiten der jeweiligen Gespräche aufzuzeigen, um den Leser_innen einen möglichst unverfälschten Blick auf die Interviewpassagen und dadurch auch eine bessere Annäherung an die befragten Personen zu ermöglichen. In diesem Sinne erfolgt auch die Zeichensetzung. Eventuell findet sich in der Fußnote die Transkription in die Standardsprache. Die Namen der Zeitzeug_innen wurden mit Initialen gekürzt, ebenso wie die (Künstler)Namen der Musiker_innen.]

[3] Basis für die vorliegende Studie bilden die im Rahmen des Projektes Die Südtiroler Option 1939: Rezeption, Erinnerungs- und Erfahrungsgeschichte, museale Darstellung des Innsbrucker Instituts für Zeitgeschichte geführten Interviews mit Zeitzeug_innen, sowie die Befragungen junger Süd- und Nordtiroler Musiker_innen als Teil der Feldforschung zu meiner am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck entstehenden Dissertation „It’s a hard life in the mountains owa nu vü härta ohne se.“ Heimatkonzepte in alpiner Populärmusik.

[4] Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1988, S. 9–19. Jan Assmann unterteilt den Halbwachs’schen Begriff des kulturellen Gedächtnisses in zwei Kategorien: Das kommunikative Gedächtnis, welches auf Alltagskommunikation basiert – nach Halbwachs das kollektive Gedächtnis – ist gruppenbezogen und wird im sozialen Kontext weitergegeben. Das kulturelle Gedächtnis hingegen baut auf so genannte Erinnerungsfiguren der Vergangenheit, die kulturell geformt und institutionalisiert sind. Dazu gehören Feste, Denkmäler, Riten und Ähnliches. Da sich die zweite Kategorie in Bezug auf die Option nicht nachweisen lässt, die erste aber sehr wohl, wird an dieser Stelle der Begriff des kommunikativen Gedächtnisses nach Assmann verwendet.

[5] Interview mit Herrn J. F., Jahrgang 1927, am 20.8.2013. Antwort auf die Frage nach Heimat.

[6] Interview mit G., Musikerin, am 30.10.2013. Antwort auf die Frage nach Heimat. [Heimat ist eigentlich da wo es passen sollte, weil es ja nicht immer passt.]

[7] Interview mit Frau P. A., Jahrgang 1934, am 23.8.2013. Erzählung über die Rückkehr nach Südtirol. [Wir haben immer gesagt: Mama, gehen wir wieder hinaus zu den Russen, lieber als hier! Nein wirklich.]

[8] Interview mit Frau M. H., Jahrgang 1936, am 3.9.2013. Antwort auf die Frage, ob sie Südtirolerin oder Österreicherin sei.

[9] [Landsleute.]

[10] Interview mit Frau H. G., Jahrgang 1924, am 3.9.2013.

[11] Vgl. dazu auch die Sonderausgabe der Südtiroler Heimat, 50 Jahre Verband der Südtiroler in Österreich. 1946–1996.

[12] Gespräch mit G. L., Jahrgang 1951, am 3.9.2013. Herr L. erklärt seine Verbundenheit zu Südtirol. [War es für uns immer, wenn wir über den Brenner gefahren sind, das war einfach ein intuitives Gefühl: Jetzt fahren wir nach Hause hinein.] Vgl. dazu Outi Tuomi-Nikula. „Letztlich ist man da zu Hause, wo man seine Geschichte hat“. Zum Heimat-Begriff der adeligen Rückwanderer in Mecklenburg. In: Nils Grosch/Sabine Zinn-Thomas (Hg.), Fremdheit – Migration – Musik. Kulturwissenschaftliche Essays für Max Matter (Populäre Kultur und Musik Bd. 1), Münster 2010, S. 213–235.

[13] [Kleiner Italiener.]

[14] Interview mit Herrn H. G., Jahrgang 1931, am 3.9.2013. Antwort auf die Frage nach der Bedeutung von Heimat.

[15] Interview mit Frau T. H., Jahrgang 1932, am 19.8.2013. Antwort auf die Frage, wo sie daheim, wo ihre Heimat sei. [Ich bin herumgekommen wie das Falschgeld!]

[16] Interview mit G., Musikerin, am 30.10.2013. Gespräch über verschiedene Musikstile.

[17] Interview mit Herrn K. T., Jahrgang 1926, am 22.8.2013. Antwort auf die Frage nach der Ankunft am Elternhof nach Kriegsende.

[18] Interview mit S. am 17.9.2013. Antwort auf die Frage nach Heimat. [Da müsste ich dich anlügen. Ich müsste mir jetzt eine Floskel erfinden, um dir zu sagen, was Heimat ist, weil ich es nicht weiß.]

[19] Hermann Bausinger, Heimat und Identität. In: Konrad Köstlin/Hermann Bausinger (Hg.) Heimat und Identität. Probleme regionaler Kultur (Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins Bd. 7), Neumünster 1980, S. 9-24, hier S.19.

[20] Ebd., S. 19-20.

[21] Auszug aus dem Liedtext von Vino Rosso, Huamkemen, 2013. [Die weißen Spitzen begrüßen dich, die Äpfel und der Wein, der Duft deiner Heimat erinnert dich daran, frei zu sein. Lang ist es her, dass du weggegangen bist, jetzt bist du schon wieder da. Alles ist gleich geblieben und das ist richtig so. Heimkommen – ein großes Wort, ich will heimkommen, ich war so lange fort, heimkommen, jetzt oder nie, ich will heimkommen, heim zu dir.]

[22] Lutz Röhrich, „… und das ist Badens Glück“. Heimatlieder und Regionalhymnen im deutschen Südwesten. Auf der Suche nach Identität. In: Gesammelte Schriften zur Volkslied- und Volksballadenforschung (Volksliedstudien Bd. 2), Münster 2002, S. 447–468, hier S. 462–465.

[23] Tuomi-Nikula, Geschichte, S. 213–218.

[24] Martha Verdorfer, Geschichte und Gedächtnis. Die Erinnerung an die Option von 1939. In: Günther Pallaver / Leopold Steurer (Hg.), Deutsche! Hitler verkauft euch! Das Erbe von Option und Weltkrieg in Südtirol, Bozen 2011, S. 365–383, hier S. 371–379.

[25] Gunther Gebhard/Oliver Geisler/Steffen Schröter, Heimatdenken. Konturen und Konjunkturen. Statt einer Einleitung. In: Dies. (Hg.), Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld 2007, S. 9–56, hier S. S. 9.

[26] Brigitte Foppa, Nur net Rogeln! Zum Umgang mit Option und Widerstand in Südtirol. In: Skolast 54 (2009), H. 2, S. 74–87, hier S. 78.

[27] Bausinger, Heimat, S. 23.

[28] Auszug aus dem Liedtext von Frei.wild, Südtirol, 2003. Frei.wild. Offizielles Songtext-Archiv, http://songs.frei-wild.net/song/sudtirol (Abruf: 26.05.2014).

Dementgegen findet sich im Lied Das ist das Land der Vollidioten von 2009 eine Rechtfertigung der Band auf erfolgte Kritik an den Inhalten ihrer Lieder:

Wir haben immer gesagt
Dass wir das Land hier furchtbar lieben
Balsam für die Seele
Wie wir euch damit provozieren
Ihr seid dumm, dumm und naiv
Wenn ihr denkt, Heimatliebe ist gleich Politik

Schaut euch doch um
Das Paradies auf Erden liegt hier mitten in den Bergen
Jeder Volksmusikant tritt live im Fernsehen auf
Singt über das gleiche Thema, doch da fällt’s keinem auf

Das ist das Land der Vollidioten
Die denken, Heimatliebe ist gleich Staatsverrat
Wir sind keine Neonazis und keine Anarchisten
Wir sind einfach gleich wie ihr, von hier.

Frei.wild. Offizielles Songtext-Archiv, http://songs.frei-wild.net/song/das-ist-das-land-der-vollidioten-still (Abruf: 26.05.2014).

[29] Verdorfer, Geschichte, S. 381.

[30] Hans Karl Peterlini, Heimat zwischen Lebenswelt und Verteidigungspsychose. Politische Identitätsbildung am Beispiel Südtiroler Jungschützen und –marketenderinnen, Innsbruck 2011, S. 170.

[31] Eine nähere Ausführung musste in diesem Text leider ausbleiben, da sich im Rahmen dieses Projektes keine Interviewpartner_innen finden ließen, die zu einem Gespräch über die Optionszeit bereit waren.

[32] Interview mit Frau E. P., Jahrgang 1925, am 19.8.2013. Im Gespräch über die Situation in der Zeit vor der Wahl.

[33] Peterlini, Heimat, S. 174-176.

[34] Interview mit S., Musiker, am 17.10.2013. Teil der Antwort auf die Frage nach Heimat. [Es sind die einfachen Fragen, die extrem schwierig sind.]

[35] Markus Tauschek, Zur Relevanz des Begriffs Heimat in einer mobilen Gesellschaft. In: Kieler Blätter zur Volkskunde, Jg. 37 (2005), S. 63–85, hier S. 67.

[36] Bausinger, Heimat, S. 22.